Potentielle Tatorte – wegsame Zeichnungen von Gerlinde Zantis
Die Lichtverhältnisse in Südfrankreich haben viele Maler fasziniert und ihre Schauplätze sind heute Tourismusmagneten. Licht und Schatten prägen auch die mit Graphit, Farbstift und Pastell gezeichneten Arbeiten von Gerlinde Zantis, die sich seit vielen Jahren in das touristisch nicht sonderlich erschlossene Südostfrankreich aufmacht. In den Titeln ihrer Bilder schlagen sich neben den Nummern der Départments Ardèche, Drôme, Gard und Lozère oft einfach nur Orts- und Gemarkungsnamen aus jener Region nieder, in denen sie ihre Bildthemen findet.
In mehrfacher Hinsicht sind ihre Zeichnungen außergewöhnlich. Kaum jemand sonst zeichnet so große Bildformate derart atmosphärisch eigen und gegen den Strich der klassischen realistischen Zeichnung. Sie schichtet, schabt, radiert und glättet und durch verreiben von Graphit und Farbpigmenten gibt es selten Konturlinien. Solche Arbeitsspuren und -strukturen verschaffen ihren Werken Verweildauer beim Betrachten.
Trotz einer Lichtskala, die vom Dämmerlicht bis zum Schlagschatten reicht, kommen ihre undramatisch hellen Bilder mondlichtfahl und beinahe unscheinbar daher. Das liegt auch an der kargen, kaum technisierten Gegend, deren Hügel, Pflanzen und Gebäude wenig Besonderes bieten. Umso mehr geht der Reiz der Bilder von der besonderen Zeichenweise aus.
Die menschenleeren Dorf- und Naturgefilde bieten einen realistischen Einstieg in eine vertraute Fremde. Man sieht glaubhafte Gebäudestrukturen, ist aber nicht mit weiteren Lebenszeichen konfrontiert. Kein Mond weckt romantische Gefühle. Keine komplizierte Architektur zeigt Präsenz, sondern leicht bollwerkhaft wirkende Gehöfte oder Häuserensembles ohne nostalgischen Heimatappeal, die in ihrer Schlichtheit und Rechtwinkligkeit minimalistisch wirken, akzentuiert durch Fensteröffnungen, Balkone und fleckige Wände. Eine durchaus vom dörflichen Alltag gestaltete, aber nicht offensichtlich von der Gegenwart geprägte Gegend.
Die Landschaftszeichnungen mit ihren Erdkrumen, Wiesen, Bäumen, Sträuchern und undurchdringlichem Dickicht weisen mitunter einen eher informellen Charakter auf. Der Lichteinfall durch die Blätterkronen flirrt auf dem steinigen Boden als körniges Streumuster aus hellen und dunkleren Reflexen und wird vom Eigenleben des Geflechts der Äste und Zweige konstruktiv überwölbt.
Die verschiedenen Lichtintensitäten der Häuserwände in Ortschaften und Weilern erzeugen malerisch strukturiertes und realistisch motiviertes Flächenarrangement. Die Lichtdifferenzkanten ersetzen als vielfach gerichtete Vektoren die fehlenden Konturlinien. Wucherndes Unkraut an Gebäudekanten und sonstige Vegetation verschleiert die Flächenanbindungen. Banales und leicht Schmutziges, Schattierungen und Feuchtigkeitsflecken suggerieren Natürlichkeit. Belassenes und Gelassenes bilden die Basis, Erfundenes mischt sich ein und Arbeitsspuren machen aus dem Bild etwas unabweisbar Geschaffenes.
Durch das Medium der Zeichnung findet eine unvermeidbare Vereinheitlichung, Vereinfachung oder Umformung der vorgefundenen Oberflächenmaterialitäten von Architektur und Natur statt. In den letzten Jahren bindet Gerlinde Zantis zusehends auch farbige Partien neben den bis dahin dominanten Grauwerten mit ein und entbindet sich auf diese Weise der Nüchternheit analytischer Darstellung. Farbe wird zart hineingesetzt ohne die Stimmungslage zu stören, die Stille und Gelassenheit transportiert. Fahles Dächerrot von Ansiedlungen und seichter Dunst über Landschaften verhindern malerische Unterkühlung und ein ernüchtertes Dichtmachen der Aufmerksamkeit. Man ist anwesend.
Die eigentümlichen Bühnenräume der Bilder haben Anflüge von der Konstruiertheit der Pittura Metaphysica De Chiricos, aber sie sind nicht surreal verfremdet und auch nicht mit einer unbehaglich lauernden Stimmung aufgeladen. Die ausgewogene Komposition führt meist durch leichte Diagonalen und Fluchtungen über Wege in die Bildräume, in denen man mit den Augen weiterwandern kann. Das jüngste Bild [Titel] lässt diesen Weg für den Betrachter auf einer steilen Hangfläche besonders anstrengend erscheinen. Der Horizont wird in den Bühnenräumen der verschachtelten Orte oder von Wegen durchzogenen Landschaften häufig verdeckt. Im Typus von Renaissanceporträts taucht Ferne gelegentlich als Ausblick am Rande auf. Räumlichkeit, die neben der Lichtwirkung das markanteste und entscheidende Wirkpotential der Bilder ist, wird so vertieft und in einem kulissenhaften Terrain überschaubar gestaffelt. Der Blick soll nicht der Tiefe, sondern der Nähe gelten.
Die Wirkung dieser Örtlichkeiten, die allerorts sein könnten, ist weder pittoresk, noch magisch verfremdet, zieht aber doch mit wolkenarmem Zwielicht in den Bann. Sie hat etwas von der Harmlosigkeit eines Polizeifotos, das sachlich einen gewöhnlichen Tatort dokumentiert, der nicht direkt ein Unbehagen erzeugt.
Zunächst jedenfalls, dann setzt man mit kleinen Vermutungen an, sieht verbarrikadierte oder dunkle Fenster, glaubt mehr Verlassenheit als Mittagsruhe in den menschenleeren Gefilden wirksam. Es wohnen wahrscheinlich Menschen an den Orten, aber man sieht sie nicht. Man beginnt eigene Erwägungen und Ahnungen von potenziellen Geschehnissen hinzuzufügen und sich in Gedanken dort einzufinden, ohne Geborgenheit oder Unbehagen zu empfinden. Es wächst in einem die spannungsvoll mitfiebernde Unruhe heran, die man vom Lesen eines Kriminalromans kennt. Es sind beiläufige Orte im Dorf, im Wald und auf offener Strecke, an denen man beim Spazierengehen unaufmerksam vorbeigeht oder nur kurz Atem holt und doch sind sie aufgeladen mit Erwartungen. Noch unbelastet ungewiss bleiben die meisten Wege ohne klares Ende. Man ist unterwegs und verharrt getrost – in einer leichten Vogelperspektive. Gerlinde Zantis zeichnet mitunter auf dem Autodach, um mehr Aufsichtsfläche zu gewinnen.
Die Arbeiten repräsentieren eine Idee und Empfindung von Landschaft oder Dorfschaft, die aus mehr besteht, als dem äußeren Anschein und intensivieren diese Erfahrung in einer Art Bühnenraum; realitätsnäher als eine Theaterkulisse oder ein ähnlich aus der Wirklichkeit herausgelöster Erfahrungsort. Weniger ein Handlungsraum, als eine Stätte fürs Dasein. Nicht nachgeahmte, sondern erfinderisch gebannte Natur wird bildhaft, die statt Extravaganzen die schlichte Existenz spüren lässt.
Dirk Tölke
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