Alexandra Simon-Tönges, Einführungsrede zur Ausstellungseröffnung „Chaussée déformée“ im Begas Haus, Heinsberg, 17.3.2019
Flussläufe und Waldwege zeigt Gerlinde Zantis. Das klingt zunächst recht unspektakulär, nach sonntäglichem
Spaziergang, nach Ansichten, die wir alle kennen und die uns sicher auch faszinieren: Wasser, das in der Sonne
glitzert, Licht- und Schattenspiel auf Waldwegen. Schaut man genauer hin, steht man staunend und fragend vor dem
Bild und fragt sich, welche Technik hier verwandt wurde? Aus der Ferne könnten wir sie für Fotografien halten,
gehen wir näher heran, denken wir vielleicht an ein Gemälde.
Aber an Zeichnung denkt man sicher nicht
als erstes. Vielleicht auch schon deshalb, weil wir der Zeichnung – die wir mit Skizzieren, Kritzeln und
Vorstudien für Kunstwerke in Verbindung bringen. Aber genau dies – die Zeichnung, die in der Gattung der Künste
früher unter der Malerei, Bildhauerei und der Grafik rangierte – das ist das Metier von Gerlinde Zantis. Diese
Zeichnungen hat sie ausschließlich mit Pastellkreide auf Papier geschaffen. Und das in teils riesigen Formaten
wie sie für die Zeichnung sehr ungewöhnlich sind. Grandios!
Bereits seit ihrer Kindheit zeichnet Gerlinde Zantis, immer am liebsten das, was man sieht, was selbstverständlich um uns herum ist, was uns kaum auffällt. Auch während ihres Studiums an der Fachhochschule Design in Aachen – und da sind wir in den wilden, experimentierfreudigen 80ern – bleibt sie bei der zeichnerischen, realistischen Wiedergabe ihrer Umwelt. Manch ein Professor und Dozent hatte in dieser Zeit wenig Verständnis dafür, zumal die Kunstwelt in dieser Zeit besonders empfänglich war für das gestische, progressive, farbenfrohe und dynamische Arbeiten.
Doch Gerlinde Zantis blieb ihrem eingeschlagenen Weg treu und verfolgte weiterhin die Linie (im wahrsten Sinne des Wortes). Vor mittlerweile 20 Jahren löste dann die Pastellkreide den Graphitstift ab. Damit sind ihre Arbeiten malerischer geworden und weniger linienbetont. In den jüngeren Arbeiten, wie wir sie auch hier sehen, betont sie wieder mehr das Zeichnerische, das Detail – wenn auch mit weichem Strich. Auch farbiger sind die Zeichnungen geworden, jedoch auf eine sehr subtile, feine Art, sie wirken wie von einem Hauch Farbe überstäubt. In der Ausstellung lässt sich die Weiterentwicklung von der gedeckten Monochromie zur helleren Farbigkeit durch den Vergleich der älteren Arbeiten (z.B. Dept. 07 / D 202 IV von 2012) mit den jüngeren gut verfolgen.
Zu Gerlinde Zantis liebsten Motiven zählt die Landschaft der Ardèche im Süden Frankreichs. Immer wieder reist sie dorthin, Skizzenbuch und Stift sind immer dabei. Auf der Suche nach geeigneten Kompositionen bewegt sie sich gerne abseits von Wanderwegen oder touristisch erschlossenen Gebieten. Sie sucht die unberührte Natur, taucht regelrecht ein in diese Landschaft, steigt in das Flussbett, um ganz nah dranzu sein, klettert über Geröll und Steine, um hinter der nächsten Wendung des Bachlaufs das nächste Stück grandiose Natur zu erleben. Wenn sie hier unterwegs ist, dann ist sie allein mit der Natur: kein Mensch, kein Weg, kein Kontakt zur Außenwelt – auch kein Handyempfang.
Vor der Natur fertigt sie Skizzen an, sie wählt sie den geeigneten Ausschnitt, legt die Komposition fest und fängt mit schnellem Strich die Stimmung eines Ortes ein. Oft kehrt sie dann am nächsten Tag wieder, um mit der Kamera ein Foto zu machen, das ihr nachher im Atelier bei der Ausarbeitung der Details, der Steine am Wegrand, der Verästelungen, der Wasserlinie hilft. Insbesondere bei den nächtlichen Landschaften zeichnet sie stets im Dunkeln vor der Natur den Ort und macht dann tagsüber Fotos, um die Details der Landschaft festzuhalten.
Die ausgestellten Skizzenbücher geben einen tiefergehenden Einblick in das vorbereitende Zeichnen. Mit den Vorzeichnungen und Skizzen dokumentiert Gerlinde Zantis nicht nur die topografischen Besonderheiten des Ortes, sondern macht auch stets akribische Angaben zum Zeitpunkt der Zeichnung, indem sie Datum, Tageszeit und Temperatur festhält. So fängt sie die Atmosphäre des Ortes ein.
Die Motivwahl ist niemals außergewöhnlich im Sinne einer heroischen Landschaft oder einer besonders herausstechenden Topografie, wie z.B. eines Berggipfels. Die gezeigte Landschaft wirkt auf den ersten Blick unspektakulär. Wie der Titel der Ausstellung besagt, sind es „Chaussée déformée“, Wege in Wäldern und Nachläufe, die uneben und verformt sind, die Schönheit wird hier nicht in den Mittelpunkt gerückt. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch das felsige Gebirge und diese Wälder ziehen gleichmäßig an uns vorbei. Gerlinde Zantis stellt sich beim Skizzieren mitten hinein in den Bachlauf oder auf den Waldweg und damit mitten hinein in die Natur.
Dieses Mittendrin-Sein betont sie auf besondere Weise: wir betrachten die Landschaft mit einem umfassenden Panoramablick. Wir können den Blick schweifen lassen von den Steinen und dem plätschernden Wasser vor uns auf dem Boden, dem Flusslauf folgen bis zu dem Punkt, wo er an einer Felswand die nächste Biegung macht. Diese Landschaft zieht den Betrachter sogartig in ihre Mitte, so dass sie das Gefühl erzeugt, man stünde mittendrin.
Dieser Landschaftsraum erscheint wie eine naturalistische Abbildung der Landschaft, was Gerlinde Zantis durch die
sachliche Betitelung zusätzlich betont. Sie gibt das Department mit Nummer an, den Ort – z.B. den Namen des
Flusses, des Waldes oder der Straße – und sie nummeriert die Zeichnungen durch.
Dennoch stellen die
Zeichnungen keine authentische Wiedergabe des Ortes dar. Gerlinde Zantis zeichnet die Umgebung nie eins zu eins
ab, sondern sie schafft – manchmal aus mehreren Einzelansichten komponiert – eine idealisierte Landschaft; eine
Landschaft, die aus ihrem Gefühl für die Atmosphäre eines Ortes entsteht, die sich nur an die Wirklichkeit
anlehnt und die ihre ganz eigene Wahrheit repräsentiert. Durch dieses Vorgehen verdichtet die Zeichnerin die
Landschaft: an jeder Stelle des Bildes ist bedeutsame Natur, nichts verschwimmt oder wird vernachlässigt.
Entlang dieses dichten Bildraums wird der Blick – fast immer einem Fluchtpunkt folgend und mit enormer
Tiefenschärfe – weit in die Tiefe geführt.
Der durch die Bildebenen wandernde Blick des Betrachters kann sich ungestört auf die Natur konzentrieren. Es gibt keine Signatur, die ablenken könnte und auch die schlichten, schwarzen oder weißen Bilderrahmen halten sich optisch zurück. Die reduzierte Farbigkeit unterstützt die Konzentration auf die Wahrnehmung der Naturformen und des Spiels von Licht und Schatten. Ein strahlend blauer Himmel oder eine farbig blühende Blume würden den Blick nur ablenken. Gezielt setzt die Zeichnerin weiße Pastellkreide ein: So leuchten die Steine im Wasser im Licht, das Wasser scheint in der Sonne zu glitzern. Dieses Vorgehen sorgt dafür, dass die Landschaften niemals wie eine pittoreske Idylle wirken.
Gerlinde Zantis schafft es, nicht nur die Natur detailreich abzubilden, sondern etwas von dieser elementaren Naturerfahrung zum Betrachter zu transportieren. Mit dieser Übertragung ins Bild und damit in den Kulturraum des Kunstwerks wird die Zeichnung zur Projektionsfläche für den Betrachter. Die Möglichkeit des kontemplativen Schauens stellt einen Gegenentwurf zu unserer heutigen, schnelllebigen Zeit und der ständig auf uns einströmenden, virtuellen Bilderflut dar. Der Betrachter ist der Totalität einer Bilderfahrung ausgesetzt, die er in Angesicht der Natur vor Ort kaum erleben kann. Diese Zeichnungen schärfen unseren Blick für die Naturwahrnehmung. Und es wird – wie bereits in der Landschaftsmalerei der Romantik – das Erhabene der Natur spürbar, das Mächtige und Unbezwingbare der Natur, vor der der Betrachter klein und nichtig dasteht und staunt.
Eine Sehschule der ganz besonderen Art.
Alexandra Simon-Tönges, M.A.
Kunsthistorikerin
E-Mail: info@gerlinde-zantis.de
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